Folgen Sie uns auf Facebook
Folgen Sie uns auf Instagram
ENZur englischen Website wechseln

Kann Musical Gesellschaftskritik?

Ein Talk über Erinnerungskultur auf der Bühne

Das Theater Hagen zeigt zurzeit das Musical “Anatevka (Fiddler on the Roof)”. Die zwei RuhrBühnen-Bloggerinnen Hanna Kuhlmann und Sabrina Fehring haben es sich angeschaut. Beide gingen mit unterschiedlichen Erwartungen in die Vorstellung – denn Sabrina ist Musical Fan, Hanna steht dem Genre eher skeptisch gegenüber. Ein kritischer Dialog.

Der jüdische Milchmann Tevje lebt mit seiner Frau und seinen fünf Töchtern im kleinen russischen Dorf Anatevka. Für die Bewohner*innen ist ihnen eines im Leben besonders wichtig: die Tradition. Alles hat Tradition: Glaubensrituale und die Aufgaben und Rollen der Geschlechter. Als der stadtfremde Perchik aus Kiew kommt und seine Dienste als Lehrer anbietet, stellt er die Traditionen der Dorfbewohner*innen in Frage.

“Ihr könnt eure Augen nicht davor verschließen, was da draußen in der Welt passiert”, die Welt dreht sich weiter, doch die Zeit im Dorf Anatevka scheint still zu stehen. Die Dorfbewohner*innen wollen nichts von den Veränderungen in der Welt hören, denn sie halten an ihren Traditionen fest. “Ohne Tradition wäre das Leben genauso unsicher wie der Fiedler auf dem Dach”, stellt Tevje fest. 

Die Veränderungen in der Welt heißen nicht nur Gutes. Über die gesamte Geschichte legt sich ein Schatten der Gewalt. Man hört Berichte von Jüd*innen, die aus anderen Dörfern vertrieben wurden, Auseinandersetzungen und Anfeindungen gegenüber der jüdischen Gesellschaft häufen sich, auch in Anatevka. Doch die Gemeinde lebt weiter glücklich in ihrer Tradition und verschließt sich von der Außenwelt. Der Fiedler auf dem Dach zieht sich bis zum Ende als Motiv der Tradition durch. Man hält an allem alten fest, an den Traditionen, vielleicht auch gerade weil sie wissen, was schlimmes auf die zukommen wird. Denn hinter dem fröhlichen Musical-Gesang lauert die drohende Gefahr der Jüd*innen – Vertreibung und Ausgrenzung. Es scheint, als wäre ihre Tradition ihre Flucht vor der Realität.

Hanna: Wagt man es, den Stoff des Musicals aus heutiger Perspektive – geprägt vom feministischen und postmigrantischen Diskurs – zu betrachten, so legt sich die erste musikalische Nummer “Tradition” wie ein dunkler Schleier über das gesamte Stück: Denn “Männer sind nicht zum Anschauen da, sondern zum Heiraten”, lautet es in dem Text. Und Frauen? Denen ist es in der jüdischen Gemeinde Anatevka verboten zu lernen, sie übernehmen die Kinderbetreuung und den Haushalt. Nicht nur ein Klischéebild der Frau, sondern auch das einer religiösen Gemeinde. Denn über die feucht-fröhlichen Lieder und Lobgesänge über Tradition und Religion hinweg vergisst man, dass Anatevka ein isoliertes Dorf ist und sektenartige Strukturen den Alltag bestimmen. Die Klarinette nimmt dreckig ein paar Halbtöne mit, während wir Männer mit Kippa und Pejot, der charakteristischen Schläfenlocke orthodoxer Juden, sehen. In der Darstellung dieser kleinen Glaubensgemeinschaft könnte allerdings auch der Trugschluss provoziert werden, jüdisch zu sein, gehe mit diesen traditionellen Werten, die hier dargestellt werden, einher. 

Regisseur Thomas Weber-Schallauer bindet die Klassismus-Kritik, die Jerry Bocks Musical beinhaltet, mit ein (“Klar ist, wer reich ist, ist auch klug!”), findet allerdings im Umgang mit den unterschiedlichen Stereotypisierungen keinen geschlossenen Ton. Überspitzte Figuren mögen zwar das Genre Musical bestimmen, dennoch begegnet uns in diesem Stück auf Grundlage der weiblichen Stereotype häufig sexistischer Humor. Und dieser hat für mich persönlich das Erleben hier stark beeinflusst und ich konnte mich diesen Sprüchen kaum entziehen. So erging es mir auch mit teilweise starken Vereinfachungen wie “Die Russen-Mütze”. 

Zwar geht die Umsetzung dieses Konzepts auf: Der Abend ist unterhaltsam, spiegelt die tragikomische Story des kleinen Dorfes wider – aber für mich bleibt die Frage offen, ob wir nicht auch verantwortungsvoll unterhalten werden können. Ohne die Narrative, die wir eh schon in der Gesellschaft beobachten. Dagegen könnte uns doch im Theatersaal mal eine neue Schönheit überraschen. 

Sabrina: Da stimme ich dir voll und ganz zu. Allerdings sollten wir auch einmal überlegen, wann das Ganze spielt. Und zwar um 1905 – mehr als 100 Jahre vor unserer Zeit. Natürlich galten dort andere Rollenbilder und auch andere Traditionen. Ganz klar ist hier die Frage: Wollen wir das im Jahr 2021 so stereotyp sehen, auch wenn es “damals halt eben so war”? Ich finde, dass Musicals eben da auch die Aufgabe haben, das Ganze kritisch zu hinterfragen. Denn in meinen Augen ist Musical nicht nur Entertainment, sondern auch ein Mittel zur Reflexion und Gesellschaftskritik. Eine Rebellion gegen die alten Tradition findet ganz klar statt, aber ich finde auch, dass man eine Rebellion gegen beispielsweise die Genderstereotype sieht. Ganz deutlich wird dies in den Rollen der Töchter von Tevje. Sie sind alle drei in diesem konservativen Dorf aufgewachsen und es scheint, als hätten sie nie etwas von der Außenwelt mitbekommen. Aber trotzdem zeigen sich in ihnen moderne Charakterzüge, denn alle widersetzen sich zum Beispiel der Tradition der Heiratsvermittlerin. Sie möchten sich ihren Mann selbst aussuchen. Hodel toppt das Ganze natürlich, in dem sie ihren Vater nicht einmal nach der Erlaubnis fragt zu Heiraten, sondern es als ihre Entscheidung durchsetzt. 

Hanna: Die Kontextualisierung des Stoffs ist ohne Frage zu berücksichtigen: Also die Tatsache, dass wir einen Stoff sehen, der nicht die heutige Zeit thematisiert, verändert den Blick auf die Frauen und ihre Entwicklungen. Dennoch würde ich mir auch in der Darstellung “alter” Stoffe mehr Mut zur Utopie wünschen. Was wäre, wenn die Bewohner*innen in dem Dorf zu einer Gleichberechtigung finden würden? Ich bin mir noch unschlüssig, wie man das leisten kann, aber ich gewinne den Eindruck, dass diese weiblichen Charaktere, die aus ihren Rollenbildern ausbrechen, betonen, dass es immer noch etwas anderes ist, eine Besonderheit, als Frau frei über sich bestimmen zu können. Hodel zum Beispiel ist eine starke Rolle! Aber es gibt keine neue Normalität. Wie wäre es, wenn wir in einem Stück, einem Musical, eine Zukunft sehen, in der diese Rebellion nicht mehr notwendig ist. Dafür müsste man natürlich an Inhalt und Musik ran. Und das ist im Musical und Musiktheater – so mein Eindruck – immer noch verpönt.

Sabrina: Das stimmt allerdings. Bei mir persönlich sind die stereotypen Darstellungen aber auch eher ironisch herübergekommen. Die Art, wie die Darsteller*innen die Rollen verkörpert und die Gesangs- und Sprechtexte herübergebracht haben, war von einer Prise Ironie unterlegt. Zum Beispiel bei dem Lied der Tradition und jedes Mal wenn es um die traditionellen Rollenbilder von Frau und Mann ging, habe ich einen ironischen Unterton wahrgenommen – eine versteckte, aber trotzdem existente Kritik an den Stereotypen. Und wer den Unterton nicht wahrgenommen hat, konnte spätestens durch den Charakter Perchik verstehen, dass die alten Klischees und Traditionen zu kritisieren sind. Er verleitet das Publikum gleichermaßen wie die Charaktere auf der Bühne zur Reflexion – sogar Vater Tevje beginnt damit, die Traditionen zu brechen. Aber was noch wichtiger ist, ist dass Perchik allen klar macht, wie wichtig es ist, für Veränderungen zu kämpfen. Auch wenn das alte, bekannte, die Tradition, ein sicherer Hafen ist, ist es wichtig, für Veränderungen zu kämpfen. “Warum schimpft ihr? Ihr schimpft und unternehmt nichts”, sagt Perchik zu den Männern im Dorf. Diese Message lässt sich auch gut auf unsere heutige Zeit übertragen.

Zusammenfassend können wir sagen: Man erwartet vom Musiktheater nicht unbedingt, dass es sich gesellschaftskritisch auseinandersetzt, das erlebt man ja meistens im Schauspiel. Aber Weber-Schallauers Inszenierung von “Anatevka” beweist im Grunde das Gegenteil: Die Verfolgung von Jüd*innen, die extreme Beurteilung von deren Anderssein und anderen Glaubensgemeinschaften stehen im Mittelpunkt der Erzählung und es ist wichtig, dass solche Geschichten auch heute noch auf die Bühne kommen – um an die Gräueltaten zu erinnern und Erinnerungskultur innerhalb von Unterhaltung zu schaffen.


ANATEVKA (FIDDLER ON THE ROOF)
Musical von Jerry Bock

Theater Hagen

Musical basierend auf den Geschichten von Scholem Alejchem mit ausdrücklicher Genehmigung von Arnold Perl. Buch von Joseph Stein. Musik von Jerry Bock. Gesangstexte von Sheldon Harnick. Deutsch von Rolf Merz und Gerhard Hagen. Produziert für die Bühne in New York von Harold Prince. Original-Bühnenproduktion in New York Inszeniert und choreographiert von Jerome Robbins. Dauer: 3 Stunden

Mehr Informationen, Tickets und Termine gibt es hier.


Der Artikel „Kann Musical Gesellschaftskritik? Ein Talk über Erinnerungskultur auf der Bühne“ wurde von unseren Bloggerinnen Hanna Kuhlmann (l.) und Sabrina Fehring (r.) verfasst. 

Weitere Artikel, mehr zum Blog, dem Projekt und unseren RuhrBühnen-Blogger*innen gibt es hier.

Nach oben

Cookie-Richtlinie

Wir verwenden Cookies, um dir ein optimales Website-Erlebnis zu bieten. Durch Klicken auf „Alle Akzeptieren“ stimmst du dem zu. Unter „Ablehnen oder Einstellungen“ kannst du die Einstellungen ändern oder die Verarbeitungen ablehnen. Du kannst die Cookie-Einstellungen jederzeit im Footer erneut aufrufen. 
Datenschutzerklärung | Impressum

Cookie-Richtlinie

Wir verwenden Cookies, um dir ein optimales Website-Erlebnis zu bieten. Durch Klicken auf „Alle Akzeptieren“ stimmst du dem zu. Unter „Ablehnen oder Einstellungen“ kannst du die Einstellungen ändern oder die Verarbeitungen ablehnen. Du kannst die Cookie-Einstellungen jederzeit im Footer erneut aufrufen. 
Datenschutzerklärung | Impressum