Folgen Sie uns auf Facebook
Folgen Sie uns auf Instagram
ENZur englischen Website wechseln

Annette ein Heldinnenepos – Haltung und Hoffnung bei den Ruhrfestspielen 

Wer ist Heldin und Wieso? RuhrBühnen-Bloggerin Hannah Straßheim über die Ruhrfestspiele und eine schauspielerische Auseinandersetzung mit dem Heldinnen-Dasein, Haltung und dem nie endenden Kampf um Gerechtigkeit. 

Es ist ein jährliches Spektakel. Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen kommen Jahr für Jahr die verschiedensten Künstler*innen zusammen, um gemeinsam ein vielfältiges, trubeliges Programm voller Lesungen, Theatervorstellungen, Musik, Comedy und Kultur aus der ganzen Welt zu präsentieren. Für mich geht es direkt am Anfang nach Recklinghausen, ins große Ruhrfestspielhaus. Auf dem Programm steht „Annette-ein Heldinnenepos“, eine Bühnenadaption des Schauspiels Hannover von Anne Webers gleichnamigen Roman in der Regie von Lily Sykes. Denn die Ruhrfestspiele sind nicht nur für die verschiedenen Theater eine große Chance, ihre Stücke zu präsentieren, sondern auch eine Gelegenheit für mich und das restliche Publikum über den Tellerrand des Ruhrpotts zu schauen und zu sehen, was die Theaterwelt sonst noch zu bieten hat.

Motto erfüllt

„Haltung und Hoffnung“ lautet das Thema der Ruhrfestspiele dieses Jahr und zeigt mit „Anette – ein Heldinnenepos“ ein Stück, welches diese Idee ganz genau getroffen hat. Es handelt sich um eine mitreißende Erzählung, die das Leben der wirklich existierenden Anne Beaumanoir begleitet, auch genannt Anette. Ihr Leben spielt in einem den prägendsten Jahrhunderte in Frankreich. Wir begleiten Annette, wie sie ihren Ungehorsam zur Stärke macht – zuerst in der Resistance während der Besetzung durch die Nazis und später während der Unabhängigkeitsbemühungen Algeriens in den sechziger Jahren. 

Eine harmonische Mischung aus Erzählung und Spiel 

Die Bühne ist offen und groß, in der Mitte steht eine Drehbühne, auf der goldene Teile eines Pavillons stehen. Das Stück beginnt fast unbemerkt, in Form von Oscar Olivo, der sich langsam in Richtung Klavier am linken Bühnenrand bewegt. Elegant interagiert er mit dem Publikum, reagiert auf spontane Nieser und präsentiert dann irgendwann ein Orchester auf vorher sorgfältig arrangierten Stühlen. Dieses besteht aus dem Rest des Ensembles und die Einlage gibt einen kleinen Ausblick auf die Fülle des Talents, das an diesem Abend auf der Bühne bestaunt werden kann. Immer wieder wird heute Abend Live-Musik erklingen, mal in Form von Gesang, der die Erzählung weiterführt und dann atmosphäreschaffend im Hintergrund. Kreiert hat die Musik David Schwarz, der auch noch selber auf der Bühne steht. Sie erinnert an Sänger*innen-Truppen aus dem Mittelalter, die Heldengeschichten besingen und epische Geschichten erzählen. 

Überhaupt muss man mit dem Überfluss an Können auf der Bühne erstmal klarkommen. Das Ensemble, bestehend aus Mohamed Achour, Corinna Harfouch, Alrun Hofert, Oscar Olivio, Katherina Sattler und David Schwarz ist ständig auf der Bühne präsent und überzeugt mit der Fähigkeit, zum einen emotionale Szenen nachzuspielen und gleichzeitig in der Erzählerrolle eine Distanz zu schaffen. 

Im ständigen Wechsel aus direkter Ansprache des Publikums, distanzierter Erzählpositionen und dem Spiel intimer Szenen, erzählen sie von Annettes Kindheit und ihren Eltern, dem Aufwachsen in der ländlichen Bretagne in der Mitte Frankreichs und dem immer größeren Kontakt mit dem konfliktgeprägten Weltgeschehen. Dabei geben sie eine eindrucksvolle Antwort auf eine Frage, die sich mir bereits gestellt hat: Wie inszeniert man erfolgreich einen Roman? Besonders schön sind dabei die immer wieder eingebauten Stellen auf Französisch, die wie eine Hommage an Annettes Heimatland wirken und gemeinsam mit den Kostümen, die in den Farben der Tricolore erstrahlen, ein Loblied auf Annettes Kampf für ihr Land und gegen die Nazis singen.

Im Paris des Widerstands 

Alrun Hofert spielt die Annette der ersten Hälfte wundervoll und zeigt die ungestüme Leichtigkeit einer jungen Frau, die Ungerechtigkeit schon immer empörend findet und es für unmöglich hält, diese so stehen zu lassen.

Sie geht nach Paris, beginnt das Medizinstudium und tritt 1940, als die Nazis in Frankreich einmarschieren, beinah sofort in die Resistance ein und wird Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs. Doch auch die Parteirichtlinien dehnt sie, als sie sich zwischen Flyer verteilen und Plakatieren in ihren Genossen Roland verliebt. Denn wie wir alle wissen, kennt Liebe keine Regeln. Im Untergrund „bewohnt sie ihren Schatten“. In Mitten von wechselnden Namen, wechselnden Unterkünften und wechselnden Persönlichkeiten riskiert Annette sehr häufig ihr Leben, während sie jüdische Geflüchtete aus dem einen Versteck in ein anderes bringt. Aber das hindert sie nicht, es trotzdem zu tun. Den Verlusten des Weltkrieges werden in Form von Gedenktafeln und einem kurzen Moment der Stille gedacht. Denn man darf nicht vergessen, dass die Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht. 

Was Annette hätte geschehen können, muss sie am eigenen Leib erfahren, als ihr Geliebter Roland verraten und hingerichtet wird. Während der Rest des Ensembles sich mit der Drehbühne weiterdreht, liegt Annette davor – alleine und wartend auf Roland. Doch so wie sich die Drehbühne immer weiterdreht, geht auch Annettes Leben nach der Befreiung durch die Alliierten einfach weiter und Roland wird eine ferne Erinnerung. Die erste Hälfte der Vorstellung endet mit dem Satz: „Wer für manche Dinge eine Erklärung fordert, für den erübrigt sich diese.“ Danach folgt eine kurze Pause, die man auch braucht, um sich alles durch den Kopf gehen zu lassen, sodass man bereit ist für Annettes zweiten Kampf. 

Mutter oder Gerechtigkeitskämpferin? 

Nachdem sie geheiratet hat, zwei Söhne bekommt und ein erfolgreiches Leben als Ärztin einschlägt, kehrt nun Katherina Sattler als Annette zurück, die im Algerienurlaub mit einer Unterdrückung in Kontakt kommt, die von ihrem eigenen Land ausgeführt wird. „Wir haben eine Fahne, ihr nicht und deshalb gehört ihr jetzt uns“, beschreibt die allgemeine Idee des Kolonialismus zynisch gut, der auch Frankreichs Geschichte maßgeblich prägt. Um Algeriens Kampf um Unabhängigkeit von den französischen Besatzern zu unterstützen, zieht Annette sofort wieder los. Und lässt dabei ihre Familie zurück. 

Die Inszenierung behandelt Annettes Rolle als Mutter und ihre vermeintliche Unvereinbarkeit mit dem Kampf um Gerechtigkeit auf eine emotionale und gleichzeitig verständnisvolle Art und Weise, ohne je verurteilend zu sein. Zweifellos macht Annette Fehler, sie macht nicht alles richtig, und ist nicht die beste Mutter. Aber anstatt Frauen auf die Rolle der schlechten Mutter zu reduzieren, wirft diese Inszenierung das Licht auf all die Errungenschaften und den Kampf, den Annette der Gerechtigkeit willen führt. 

Postkolonialistische Kritik? 

Sie arbeitet nun als Fahrerin für die Unabhängigkeitsbewegung FNL. In neonfarbenen Anzügen transportiert das Ensemble Taschen und Koffer über die Bühne, unbemerkt im Gepäck von wohlhabenden Französinnen wie Annette. Doch dann wird sie denunziert, verhaftet, zu zehn Jahren Haft verurteilt und flüchtet ins algerische Exil, wo sie weiter für die FNL arbeitet und gemeinsam mit ihnen letztendlich die Unabhängigkeit erreicht. Der Kampf gegen den Kolonialismus ist nach wie vor ein brandaktuelles Thema. Man muss nur einen Blick in das überwiegend weiße Publikum werfen, um zu bemerken, dass postkolonialistische Strukturen bis heute hochaktuell sind und uns alle beeinflussen. Umso wichtiger ist es, die Thematik immer wieder aufzugreifen und in Erinnerung zu rufen.

Heiligt der Zweck die Mittel?

In ihrem Kampf ist Annette ständig damit konfrontiert, dass sie sich fühlt wie „ein Rad, dessen Aufgabe es alleine ist, sich zu drehen“. Das ist nicht nur eine weitere wundervolle Verbindung zur Drehbühne, sondern die Verdeutlichung ihres Dilemmas, dass es niemals eine Organisation gibt, die komplett mit ihren Werten übereinstimmt. Denn nicht nur die Nazis, sondern auch die französische Armee foltert, und nicht nur diese, sondern der FNL ebenfalls. So stellt sich Annette und dem Publikum wiederkehrend die Frage: Heiligt der Zweck wirklich die Mittel? 

Annettes Kampf scheitert. Nachdem Algerien die Unabhängigkeit erreicht, wird die Übergangsregierung, der Annette angehört, bald durch einen Militärputsch gestürzt und sie muss wieder fliehen. Ihr Ideal von einem gerechten, freien Land zerbricht und sie verbringt den Rest ihres Lebens in der Schweiz und unter falschen Namen bei ihren Kindern in der Bretagne. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die meisten niemals etwas von dieser „Heldin“ gehört haben: Ihre Reise, ihr Epos endet nicht mit einem Happy End, sondern mit einem gescheiterten Versuch, ein Land etwas besser zu machen. Und doch, das Ende des Stücks ist nicht hoffnungslos, sondern aufmunternd: In einer Parallele zur antiken Geschichte des Sisyphus zeigt das Stück, dass es am Ende vielleicht nicht so sehr zählt, welche Resultate man erhalten hat, sondern dass man sich bemüht. Es geht nicht darum, den Kampf zu gewinnen, sondern darum, dass man kämpft. 

Die Inszenierung schafft es, in einem Balanceakt zwischen Humor und Tragödie das Publikum in einem Moment zum Lachen zu bringen und im anderen zu Tränen zu rühren. Gefüllt mit liebevollen Details und in Bann reißenden Schauspielenden ist das Stück eine Hommage an eine Heldin, die ihr Leben und ihren Komfort für die Gerechtigkeit opfert und den Traum von einer gerechten, freien Welt vielleicht nicht wahr macht, aber mit Leben füllt. Eine dringende Empfehlung für alle, die es noch wagen zu hoffen und Haltung zu zeigen. 


Ruhrfestspiele Recklinghausen

Annette, ein Heldinnenepos
nach dem Roman von Anne Weber | Regie: Lily Sykes | Schauspiel Hannover


Der Beitrag „Annette ein Heldinnenepos – Haltung und Hoffnung bei den Ruhrfestspielen“ ist von unserer RuhrBühnen-Bloggerin Hannah Straßheim verfasst worden. 

Mehr über den Blog, das Projekt und unsere RuhrBühnen-Blogger*innen gibt es hier.

 

Nach oben

Cookie-Richtlinie

Wir verwenden Cookies, um dir ein optimales Website-Erlebnis zu bieten. Durch Klicken auf „Alle Akzeptieren“ stimmst du dem zu. Unter „Ablehnen oder Einstellungen“ kannst du die Einstellungen ändern oder die Verarbeitungen ablehnen. Du kannst die Cookie-Einstellungen jederzeit im Footer erneut aufrufen. 
Datenschutzerklärung | Impressum

Cookie-Richtlinie

Wir verwenden Cookies, um dir ein optimales Website-Erlebnis zu bieten. Durch Klicken auf „Alle Akzeptieren“ stimmst du dem zu. Unter „Ablehnen oder Einstellungen“ kannst du die Einstellungen ändern oder die Verarbeitungen ablehnen. Du kannst die Cookie-Einstellungen jederzeit im Footer erneut aufrufen. 
Datenschutzerklärung | Impressum