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Berührend, bereichernd und unverblümt: „All THE SEX I’VE EVER HAD“

In der Bochum-Edition von „All the Sex I’ve Ever Had“ gewähren uns Senior:innen aus dem Ruhrgebiet Einblicke in ihre persönlichsten Erinnerungen. Mit den Geschichten geht eine Reflexion über den gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität in unterschiedlichen Zeitkontexten einher. Und der Abend zeigt: Das Leben schreitet fort, ohne dass Gefühle und Sinnlichkeit altern. 

Ich bin 34 Jahre alt und manchmal frage ich mich, ob meine Liebes- und Lebensabenteuer in den Zwanzigern ihren Höhepunkt hatten, sich vielleicht mit ihnen verabschiedet haben. Aus Freiheiten wuchsen Verpflichtungen, auf einen nächtlichen Rausch folgte ein immer größerer Kater. Was kommt danach? Werde ich noch einmal richtig verknallt sein? Werde ich wieder bedingungslos vertrauen, eine Familie gründen, womöglich enttäuscht werden? Bleibe ich vom Vögeln beflügelt oder folgt auf alle guten Fucks am Ende ein großer Fuck-up?

Ich frage mich nicht nur, was in den nächsten Jahren passiert. Hin und wieder erwische ich mich dabei, wie ich über mich als alter Mensch phantasiere. Denn wenn es einmal da ist, das Alter, dann verschwindet es nicht mehr. Woran werde ich gern zurückdenken? Was werde ich bereuen? Wie einsam fühlt es sich an, wenn geliebte Menschen nicht einfach in eine andere Stadt ziehen, sondern wenn sie der Reihe nach für immer gehen?

Sex im Alter ist kein Thema, über das wir Jüngeren regelmäßig stolpern. Trotzdem hielt es Einzug in die Kulturwelt – wenn auch selten. Ich habe den Film „Wolke 9“ von Andreas Dresen gesehen und war berührt. Ich habe das Buch „Nacktbadestrand“ von Elfriede Vavrik gelesen und war überrascht. Und heute, an einem Freitagabend im Oktober 2021, sitze ich in einem gut gefüllten Saal der Kammerspiele des Schauspielhauses Bochum und sehe mir eine Performance über die Liebesgeschichten von fünf Senior:innen an. Es geht nicht nur um Sex im Alter, aber auch. Es geht um die wahren Lebensgeschichten von fünf Menschen, die aus einem bestimmten Blickwinkel erzählt werden. 

Der Platz von Jacques (hinten) blieb am 8. Oktober 2021 krankheitsbedingt leer. Für Edith (Mitte) sprang Dorothea aus Oldenburg ein.

Die Bühne ist in tintenblaues und goldgelbes Licht getaucht, eine Discokugel glitzert über dem dunklen Saal. Christel, Dorothea, Josef, Maria und Johannes sitzen mit Corona-Abstand nebeneinandergereiht an einem langen Tresen und blicken verschmitzt ins Publikum. Ein Platz bleibt leer. Die Mehrheit von ihnen hat graues Haar, alle tragen Fältchen auf ihrer Haut und doch strahlen sie ein frisches Charisma aus, als wären die Jahre der Jugend zeitlos mit ihren Gesichtern verwoben.

Die heutige Performance ist die “Bochum Edition” von “All the Sex I’ve Ever Had“, ein Projekt der preisgekrönten kanadischen Performancegruppe “Mammalian Diving Reflex“. Der Bezug zum Tauchreflex bei Babys ist eine Metapher: Alle Projekte handeln vom Überleben schwieriger Zeiten mithilfe unserer Instinkte und Intuitionen.


 „All the Sex I’ve Ever Had“ wurde bereits in zahlreichen Ländern und unterschiedlichen Kulturen aufgeführt, darunter Japan, Südkorea, Singapur, Australien und Slowenien – mit nicht-professionellen Darstellenden aus dem jeweiligen Gebiet. Das Foto zeigt eine Aufführung in Taiwan. 

Das Ensemble betritt den Schauplatz. Einer von ihnen lässt das Publikum aufstehen und einen Schwur leisten: Alles, was an diesem Abend zur Sprache kommt, soll den Raum nicht verlassen. “Scheiße”, denke ich, „wie soll ich dann darüber bloggen?“ Flüsternd bewege ich meine Lippen zum Schwur. Später am Abend werde ich mit der Regisseurin Jana Eiting und zwei der Darsteller:innen besprechen, dass ich ihre Geschichten aufschreiben darf, ohne sie bestimmten Namen zuzuordnen.

Bienchen, Blümchen, Hühnereier 

Am rechten Bühnenrand sitzt ein Mittdreißiger namens Max und nennt das Jahr, in dem wir uns aktuell befinden – ein Jahreszahlenerzähler. Es sind die Vierziger. Im Laufe von zwei Jahrzehnten werden unsere Protagonist:innen geboren. Als die Sechziger einbrechen, rauscht der Song “Let’s twist again” durch die Dunkelheit und auf der Bühne wird getanzt.

 

Mit der Aufklärung von Kindern und Jugendlichen nahm man es damals nicht allzu wichtig. Als Maria neun Jahre alt ist, sieht sie ihre Mutter bluten. Sie stellt sich unter einem Eisprung ein dickes Hühnerei vor, das unten herausflutscht. Ein leises Kichern huscht durch den Saal.

Plötzlich geht das Licht an und jemand fragt, ob wir, das Publikum, früher auch so unschuldig waren. „Wir machen mit?“ Gespannt rutsche ich auf meinem Sitzplatz hin und her. Es meldet sich nur eine Handvoll Gäste, das Ensemble wirkt überrascht. Nix mit Bienchen, nix mit Blümchen. Die Lebenswege nehmen ihren Lauf, die Jahre vergehen in Minuten, manchmal verfliegen sie in Sekunden. Die Frauen bekommen ihre Periode, alle erleben ihren ersten Kuss.

Egal ob die Geschichten witzig, traurig oder nachdenklich sind: Der Erzählrhythmus bleibt gleich und ist kaum merklich mal trockener und mal leichtfüßiger, immer aber wertfrei. Das bringt einen gewissen Pepp mit sich, lässt jedoch kaum Raum dafür, die tragischen Momente zu verdauen. Als eine:r von ihnen beiläufig erwähnt, dass der Bruder sich nachts ins Bett schleicht, um mehr als brüderliche Zuneigung zu zeigen, erlebe ich ein eigenartiges Tauziehen der Gefühle. Ich schlucke, meine Gedanken straucheln; ich will sie zurück auf den Weg bringen, während jemand mit einer heiteren Anekdote anknüpft. Meine Mundwinkel verzerren sich zu einem grotesken Lächeln und ich lasse mein Mitgefühl fallen, um zurück ins Geschehen zu finden.

Vom Klammerblues zum Koitus

Marianne Rosenbergs “Er gehört zu mir” begrüßt die Siebziger Jahre. Da ist die Rede vom Klammerblues und ich stelle mir unwillkürlich einen Animationsfilm über traurige Wäscheklammern vor. Später werde ich googeln: Der Klammerblues war eine sozial akzeptierte Möglichkeit für Jugendliche, sich bei Tanzveranstaltungen näher zu kommen. Sehr nah. 

Den großen Schwarm konnte man damals noch nicht bei Facebook adden oder ihm auf Instagram folgen, aber mit etwas Glück stand die Nummer im Telefonbuch, mit viel Glück fand man seinen Herzensmensch über das Autokennzeichen. 

Nach der Aufführung gibt es die Möglichkeit, die Performenden an „Archiv-Tischen“ kennenzulernen und sich auszutauschen. Das hier ist ein Ausschnitt von Marias „Archiv“. Ich frage sie an diesem Abend, ob sie ein Lieblingsbild hat. Sie zeigt mir dieses Foto, denn es hat eine besonders erotische Ausstrahlung von ihr eingefangen.   

Es folgen Sexgeschichten aller Couleur: kuscheln, knutschen, knallen, kommen. Von Cunnilingus bis Koitus. Liegend, stehend, sitzend. In der Badewanne, im Auto, im Freien. Mit anderen oder mit sich selbst. Mit Liebe und ohne Liebe.

Wieder geht das Licht an. Ob wir auch schon einmal Sex im Auto oder an einem ungewöhnlichen Ort hatten. Zögerlich hebe ich die Hand. Im Auto? Ja. Fusion Festival. Einen Augenblick lang durchforste ich meine Vergangenheit nach ungewöhnlichen Orten, finde keine nennenswerten und fühle mich spießig. Ringsum schnellen überall Hände in die Höhe. Eine Zuschauerin erzählt von einem Liebesakt im Wald. 

Als Grönemeyers „Flugzeuge im Bauch“ die Achtziger einläutet, dreht sich die Discokugel schneller und mein Blick folgt den großen Wandschatten ihrer kleinen Spiegelstücke. Der Jahreszahlenerzähler meldet sich zu Wort. Denn Max wird, so wie ich, in den achtziger Jahren geboren. 

Tragikomisches Konfetti 

So verfliegen im Laufe des Abends nicht nur die Jahre, ganze Jahrzehnte ziehen an uns vorbei. Es wird geliebt, geheiratet und manchmal geschieden. On-Off-On-Off bei der einen, neu entfachte Gefühle beim anderen. Immer wieder schimmert Lebensfreude durch die Zeiten, doch manchmal hinterlassen Schicksalsschläge eine Verwüstung und Leere. Was wir da sehen und hören, das ist kein Hollywood-Film, keine PR-Inszenierung des Lebens. Das Leben passiert einfach: Es blüht und welkt, es kann hell leuchten oder schwarze Schatten werfen und alle Nuancen dazwischen annehmen.

Das Jahr 2000 sitzt in den Startlöchern und auf der Bühne sprudelt Sekt und flattert Konfetti. 

Krankheiten wie Krebs oder Schizophrenie lassen tiefe Narben zurück, der Tod durchkreuzt Lebenswege – manchmal nichtsahnend und mit Wucht. Ein Ehepartner stirbt unvermittelt während eines Tennisspiels. Herzinfarkt. Trotzdem macht das Dasein keine Pause, Uhren ticken unermüdlich weiter. Jahre später meldet sich die Witwe bei Parship an und begegnet allerlei eigentümlichen Gestalten. Auf Parship folgt ElitePartner.

 

2013 singt Katy Perry „I got the eye of the tiger, a fighter. Dancing through the fire…“ und es passiert etwas Sonderbares. Die Musik aus den frühen Jahrzehnten kenne ich, aber ich kenne sie als Oldies. Als der Song „Roar“ herauskam, kannte ich ihn aus den Charts und sah Live-Auftritte im Fernsehen. Er gehörte zum Sound der Gegenwart. Eine Weile lang fühlt sich die Vergangenheit an diesem Abend historisch an, doch es ist, als ginge sie in Zeitraffern in das Heute hinüber, das sich auf leisen Sohlen anpirscht und nur noch wenige Schritte von uns entfernt ist.

Zuvor aber zeigt sich: Das Alter macht nicht halt vor Neuland. Eine:r von ihnen findet spät die große Liebe, entdeckt jedoch erst später die Vorliebe für das gleiche Geschlecht. Diese Erkenntnis spaziert eines Tages in der Sauna zur Tür herein – unverhofft und unverblümt. Ich komme nicht umhin mich zu fragen, welchen Einfluss Gesetze und Konventionen auf Geschichten wie diese haben mochten?

Bis 1969 stand männliche Homosexualität in der Bundesrepublik altersunabhängig unter Strafe. Der Ursprung dieser Regelung stammt noch aus dem Kaiserreich, dem Strafgesetzbuch von 1872. Weibliche Homosexualität wurde nicht strafrechtlich verfolgt, weil man Frauen keinen hemmungslosen Sex zutraute. Rückblickend könnte man sagen: Wir flogen zum Mond und lebten hinterm Mond …

Zukunftszauber

Und dann ist sie da, die Gegenwart, einfach so. Doch die Biografien enden nicht. Ab diesem Moment wird aus wahren Geschichten Science-Fiction. Es ist das Jahr 2044. Katy Perry und „Roar“ sind Oldies. Unsere Protagonist:innen sind zwischen 89 und 100 Jahre alt. Wir erfahren von ihren Träumen, Wünschen und Hoffnungen. Josef verbringt seinen Lebensabend in Portugal, Johannes hat wieder einen Körper wie mit Sechzig und lässt sich am Strand von Kuba verwöhnen. Maria tanzt auf einer grünen Wiese bis zur Glückseligkeit, Christel trinkt auf Hawaii einen Sundowner. Und die hundertjährige Dorothea? Sie ist vor fünf Jahren gestorben. Aber ihr digitales Ich hält mit ihrer Familie über eine Revive App Kontakt.

Im Jahr 2044 bin ich 57 Jahre alt. Ich habe keine Vorstellung davon, wie mein Leben dann aussieht, wo ich sein werde und was ich tue; wen ich liebe und mit wem ich schlafe. Aber vielleicht erzähle ich nur wenige Jahre später einer anderen Generation von all the Sex I’ve ever had?

Als ich mit dem Schreiben dieser Zeilen fertig bin, nehme ich mein Smartphone zur Hand und scrolle durch meine Anrufliste. „Hallo? Oma! Du, ich muss dir was erzählen. Und was ich dich außerdem fragen wollte …“


ALL THE SEX I’VE EVER HAD

Schauspielhaus Bochum
von Mammalian Diving Reflex / Darren O’Donnell | Regie, Text: Jana Eiting
Mit: Dorothea, Maria Goeke, Johannes Persie, Jacques Scheewe, Josef Schürmann, Christel Wolf

Termine, Tickets und Informationen gibt es hier.


Der Artikel „ Berührend, bereichernd und unverblümt: 'All THE SEX I’VE EVER HAD'“ wurde von unserer RuhrBühnen-Bloggerin Eva verfasst. 

Weitere Artikel, mehr zum Blog, dem Projekt und unseren RuhrBühnen-Blogger*innen gibt es hier.

 

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