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Die Dekonstruktion des Theaters oder »eine Art Kunst-Meta-Performance-Scheiße«

Das Stück „Event“ von John Clancy macht seinem Namen alle Ehre – oder doch nicht? Das kommt ganz darauf an, wie man „Event“ definiert und was Theater überhaupt ist. Im Theater Duisburg demaskiert Adrian Hildebrandt unter der Regie von Michael Steindl eindrucksvoll das Bühnengeschehen und begleitet RuhrBühnen-Bloggerin Simone Saftig charmant durch das Dickicht der Metaebene bis hinein in ihren eigenen Kopf.

„Ein Mann steht, von Licht übergossen, vor einem Saal voller plötzlich verstummter
fremder Menschen. Unterbrechen Sie mich, wenn Ihnen das bekannt vorkommt. Sie beobachten ihn, warten, was er als Nächstes sagen wird. Im Ernst. Unterbrechen Sie mich.“ Schon in seinen ersten Sätzen macht uns jener Mann auf der Bühne klar, was wir von diesem „Event“ im Theater Duisburg zu erwarten haben. Seine eigene Handlung kommentierend zerschmettert er die vierte Wand bevor sie überhaupt gezogen werden konnte und damit ist es eröffnet, das Portal zu jenem Konzept, bei dem sich ambitionierte Deutschlehrer*innen aufgeregt die Hände reiben: die mit Leidenschaft interpretierte Metaebene.

Theater über Theater

Schnell wird klar: In den nächsten 90 Minuten werden wir in keine fantastische Welt entführt, erleben wir keine Heldenreise, keinen umständlichen Handlungskomplex und perfekten Nährboden für psychoanalytische Interpretationen. Wir sind Zuschauer*innen in einem Theater und sehen einem Schauspieler auf der Bühne dabei zu, wie er uns erklärt, dass wir Zuschauer*innen in einem Theater sind und einem Schauspieler auf der Bühne zusehen.

 

Ein Mann im weißen Anzug: Ohne viele Requisiten kommentiert Adrian Hildebrandt auf der Bühne sein eigenes Spiel.
 

Und so wird das Stück zum performativen Akt, das Bild auf der Bühne, ein Mann im weißen Anzug, zum Mise en abyme. Die Figur des Schauspielers, gleichzeitig autodiegetischer Erzähler der eigenen Inszenierung, erklärt uns nicht nur, was wir sehen, sondern welche Rolle wir selbst spielen in diesem sonderbaren Konstrukt namens Theater. Denn unsere bloße Anwesenheit – hier und jetzt – macht uns zum Teil des Systems, einem System, das trotz all seiner Freigeistigkeit auf gewisse Konventionen besteht. Und deswegen wundert es natürlich nicht, dass niemand reagiert, wenn der Protagonist das Publikum anspricht; ihn erst Recht nicht unterbricht, als er dazu auffordert.

Stattdessen hören wir ihm gespannt dabei zu, wie dieser seinen Job erklärt und in wenigen Worten und völlig erbarmungslos den Mythos des Schauspielers dermaßen dekonstruiert, dass es jegliche Method Actors dieser Welt rot anlaufen ließe: Der Schauspieler als solcher leihe sich schließlich nur Worte, die er in der richtigen Reihenfolge aneinanderreihe. Das sei sein Job, den er unbedingt richtig gut machen wolle, während ein Regisseur jede noch so alberne Geste perfektioniere, damit sie im Anschluss fleißig reproduziert werden könne. Wir, die sogenannten „Fremden“ dürften jetzt auch gerne den Saal verlassen oder einschlafen. Was einen überhaupt hierhin getrieben habe, wo sich doch Draußen das eigentliche Leben abspiele, sich Freunde treffen würden.

Die Rolle des Publikums

Sicherlich bin ich nicht die Einzige, die sich plötzlich ertappt fühlt; sich an Vorstellungen erinnert, in denen sie tatsächlich fast eingeschlafen wäre oder sich stattdessen lieber zum Bier verabredet hätte. Und schon stößt dieser Mann auf der Bühne meine Gedanken an. Er, der von sich in der dritten Person Singular spricht und trocken seinen hermeneutischen Säbel wetzt, um jede Bewegung in ihrer theatralen Funktion zu kommentieren („Der Mann geht nach rechts. Der Mann macht jetzt 15 Sekunden Pause“): Tja, warum sitzen wir eigentlich hier, wir, die Fremden? Wären wir gerade lieber woanders? Ist es das Stück, das uns hergetrieben hat? Der Kulturdurst oder doch eher der unbedingte Wille als besonders kulturdurstig dazustehen? Unterhaltungsdrang, Prestige, Suche nach Inspiration, Innovation, Immersion? In meinem Fall ist es wohl eine Kombination aus allen genannten Aspekten mit dem wesentlichen Zusatz, dass ich einen Notizblock in der Hand halte, wofür ich mich schon im nächsten Moment kurz und ehrlich schäme, denn „der Mann“ setzt zur nächsten Analyse an: Spricht man über die einzelnen Akteur*innen im Theaterkontext, dann bleiben natürlich auch die nicht aus, die sich selbst als Vermittler*innen zwischen Text, Autor*in und Publikum verstehen: die Theaterkritiker*innen, – oder um es in den Worten des Schauspielers zu sagen – „seelenlose, verbitterte Schreiberlinge“, die mit der Wahl ihrer Worte über Erfolg und Misserfolg eines Stücks bestimmen würden. Herzallerliebst, Danke!

Ein gelungenes Event

Doch in diesem Fall muss sich der Mann auf der Bühne keine Sorgen machen, denn nun folgen sie, die, wie er es nennt, ersehnten „Lobesworte“: Die minimalistische Inszenierung zieht einen ab der ersten Sekunde in ihren Bann, was nicht zuletzt daran liegt, dass Adrian Hildebrandt sie mit einer Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit spielt, die das analytische Moment des Inhalts perfekt untermauert. Und als ich es mir gerade bequem gemacht habe in dieser Metaebene, einem Raum, der Fragen von jeder Wand zurückwirft und neu stellt (Ab wann ist Theater Theater? Warum unterbrechen wir ihn nicht? Würde ich gerade lieber Bier trinken? Was haben die roten Socken zu bedeuten? Sind sie nur rot, damit wir denken, dass sie eine Bedeutung haben sollen?), vollzieht der Autor John Clancy den Transfer ins reale Leben abseits der Bühne: Dass wir hier sitzen, sei nicht das Resultat von Alternativlosigkeiten, sondern vielmehr das archaische Bedürfnis nach Zusammenkunft – echter, physischer Zusammenkunft abseits von Chats und Statusbenachrichtigungen. Dass wir uns für diesen Theaterabend bewusst entschieden haben, das Resultat unserer Freiheit, einer Freiheit, die in der überkomplexen globalisierten Welt an schier unendlichen Möglichkeiten das Entscheiden erschwert.

In diesem Sinne hier also eine kleine Entscheidungshilfe: Wer sich die Frage stellen möchte, worin der Bruch zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung liegt, was nochmal genau Bühnenrechts und Saalrechts ist und vor allem Lust hat, über die ordentliche Portion Selbstironie des Theaters und sich selbst als Teil des Ganzen zu lächeln, sollte die Inszenierung von „Event“ nicht verpassen.


Event

Schauspiel | Theater Duisburg 
von John Clancy | Deutsch von Frank-Patrick Steckel

Mehr Informationen, Termine und Tickets gibt es hier.


Der Beitrag „Die Dekonstruktion des Theaters oder »eine Art Kunst-Meta-Performance-Scheiße«“ ist von unserer RuhrBühnen-Bloggerin Simone Saftig verfasst worden. Im Interview „Auf ein Bier mit Schauspieler Adrian Hildebrandt“ gibt es weitere Einblicke.

Mehr über den Blog, das Projekt und unsere RuhrBühnen-Blogger*innen gibt es hier.

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