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Oper ohne toxische Männlichkeit

Der klassische Held – stark, mutig, kompromisslos – ist aus dem Repertoire der Musiktheater nicht wegzudenken. Doch die Oper Dortmund erschafft neues Material: Mit „Sehnsucht – Ein barockes Pasticcio“ gelingt es, neue Narrative zu erschaffen und mit den Mitteln der Oper zu erzählen: Musik und starke Bilder. Warum dieser Abend nicht nur Opernliebhaber*innen, sondern auch einige Opernskeptiker*innen mitreißen dürfte, verrät euch RuhrBühnen-Bloggerin Hanna Kuhlmann.

Memento moriendum esse (Bedenke, dass du sterben wirst). Dieses barocke Motiv prägte die Menschen der Epoche angesichts von Krieg und Krankheit – und das erscheint gar nicht so weit entfernt von unserem heutigen Leben, werfen wir einen Blick auf die täglichen Nachrichten. Die Figuren in „Sehnsucht – Ein barockes Pasticcio“, welches diese Spielzeit am Theater Dortmund uraufgeführt wurde, finden sich in einer Ambivalenz von Lebenslust und melancholischer Todessehnsucht wieder. Carpe Diem (Genieße den Tag) ist die Lebenseinstellung und zugleich singen sie „Der Schmerz des Todes wird nicht so bitter sein“.

Feinfühlige Erzählung

Den Ausdruck solcher intensiven Gefühlserlebnisse hatte ich, als überzeugte Dauerhörerin von Chopin, Rachmaninov & Co., lange der Epoche der Romantik zugeschrieben. Ihr hatte ich mehr emotionalen Tiefgang zugetraut als der barocken Musik, was sich nach dem Besuch dieses Abends als absoluter Fehlschluss erwies. Das Zusammenbringen von Text, Handlung und Musik – als das einzigartige Element des Musiktheaters – ermöglicht hier ein sinnstiftendes und unmittelbares Verständnis der barocken Musik. Durch den gelungenen dramaturgischen Aufbau und die sorgsame Zusammenstellung der Auszüge aus Werken von Riccardo Broschi, Georg Friedrich Händel, Claudio Monteverdi, Nicola Antonia Porpora, Henry Purcell u. a. ist es dem Publikum möglich, vollends in diese feinfühlige Erzählung einzutauchen. Die Hauptfigur (Bruno de Sá/David DQ Lee) durchlebt eine nicht enden wollende Suchbewegung: Wer kann und möchte ich sein? Gibt es eine gesellschaftliche Leerstelle für mich?

Ohne mit dem Vorschlaghammer zu kommen, begegnet uns das Thema (Geschlechts-)Identität wie selbstverständlich in Andreas Rosars Inszenierung: Ohne Dramatisierung, ohne moralische Endformel kommt dieses Werk daher. Rosar trifft ins Mark unserer eigenen Sehnsüchte ohne direkt darauf anzuspielen. Wir begleiten den Hauptcharakter durch seine Erinnerungen an die Kindheit, an seine Familie und seine frühere Verlobte. Die Zeitreise beginnt mit dem in die Jahre gekommenen Ich der Hauptfigur (DQ Lee), der allein in seinem kahlen Wohnzimmer sitzt und zittrig vom Alkohol versucht, seinen kleinen Weihnachtsbaum anzuschalten. Anschließend sehen wir sein junges Ich (Bruno de Sá) in einer Verlobungsszenerie: Die zweigeteilte Bühne (Dina Nur) fährt nach unten, sein Alter Ego verschwindet und das junge Paar ist mit den Eltern des Mannes zu sehen. Alle Darsteller*innen sind in unterschiedlich ausladenden Körperhaltungen gefangen. Erst mit dem Einsatz der Musik finden sie wieder in ihren natürlichen Bewegungsfluss zurück. Das Licht (Stefan Schmidt) wechselt in diesem Bild von den farblosen Nuancen einer alten Postkarte in warme, lebendige Töne. Kunstvoll wird auf diese Weise der Beginn der Erzählung über die Vergangenheit markiert. Der Mann lehnt die Hochzeit mit seiner Verlobten jedoch ab: Ein Schlüsselmoment in seiner eigenen Biographie, aber auch im Hinterfragen von (toxischen) Männlichkeitsmodellen im Musiktheater. Er zweifelt an seiner Identität, kann gar nicht in Worte fassen, was seine Schwierigkeiten sind. Vielleicht gab es auch zu seiner Zeit noch keine Worte für das, was er erlebt. Klar ist: Er liebt seine Frau, aber vielleicht nicht sich selbst? Diese Selbstreflexion ist neu und führt zu brennenden Zweifeln, die die Musik der empfindsamen Epoche gnadenlos transportiert. 

Offen für individuelle Interpretationen

Durch die natürliche Sopranstimme des Nachwuchskünstlers Bruno de Sá und dem Countertenor David DQ Lee wird bereits die stereotype Männlichkeit in Frage gestellt: Das Irritationsmoment von den hohen und zugleich männlichen Stimmen enttarnt uns in unseren eigenen Vorurteilen und eröffnet eine neue Erlebniswelt. So weint der zerbrochene, alte Mann in Purcells „O let me weep!“, zeigt Gefühle und Schwäche – alles, was sonst in dieser Form Seltenheit auf der Opernbühne hat. Auch die Reaktion der Verlobten bricht mit Konventionen, indem sie ihre Bedürfnisse entschlossen anspricht und sich mehr Zuneigung und Zärtlichkeit von ihrem Mann wünscht. Ein Perspektivwechsel ist also möglich: Durch die Form des Pasticcios konnte sich diese Produktion die nötigen Freiheiten nehmen und zeigt auch, dass die Stimmfächer keine Begrenzungen darstellen müssen. Auch wenn natürlich trotzdem männliche Figuren mit toxischen Mustern („Von dir mein Sohn wird Härte erwartet“) in diesem Pasticcio auftauchen, so erlaubt es doch der Verzicht auf den heroischen Helden dieser Oper, ganz andere Perspektiven in den Vordergrund zu rücken. De Sá bewältigt hier nicht nur die zahlreichen Koloraturen mit müheloser Brillanz, sondern auch seine Rolle: Mal ein Mann, mal ein Kind, mal eine Frau. Vollkommen unaufgeregt bringt er diese unterschiedlichen Lebenszustände dem Publikum nahe. Und bewahrt dabei stets eine berührende Verletzlichkeit, die sowohl durch seine Musikalität, als auch durch seine authentische Körperlichkeit möglich wird. 

Die Frage, ob seine Rolle nun als weiblich, männlich, non-binär, genderfluid, Drag Queen oder anderweitig zu lesen ist, bleibt offen. Und das ist wohl eine der wertvollsten Thesen dieser Inszenierung angesichts der heißen Genderdebatten: Keine Angst vor der Deutungsvielfalt. Das Loslösen von Kategorisierungen ermöglicht nicht nur als Opernbesucher*in einen großen Zugewinn zahlreicher Deutungsmöglichkeiten, sondern kann auch den Umgang mit Komplexität im alltäglichen Leben gegenüber unseren Mitmenschen erleichtern. Daher ist das knapp einstündige Pasticcio für Opern- oder Barockmusikfans als auch für Opernneulinge absolut empfehlenswert. 

Mehr über die Besonderheiten der genannten Stimmfächer könnt ihr im Interview mit Bruno De Sá auf dem Opernblog der Oper Dortmund nachlesen.


Sehnsucht. Ein barockes Pasticcio

Theater Dortmund | Mit Auszügen aus Werken von Riccardo Broschi, Georg Friedrich Händel, Claudio Monteverdi, Nicola Antonio Porpora, Henry Purcell u. a.
In italienischer und englischer Sprache mit deutschen Untertiteln

Weitere Informationen, Tickets und Termine gibt es hier.


Der Artikel „Oper ohne toxische Männlichkeit“ wurde von unserer RuhrBühnen-Bloggerin Hanna Kuhlmann verfasst. 

Weitere Artikel, mehr zum Blog und unseren RuhrBühnen-Blogger*innen gibt es hier.

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