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Von Shakespeare bis zur Festung Europa

Manuel Schmitt setzt Rossinis Oper ‘Otello’ am Musiktheater im Revier in einen zeitgemäßen Kontext

Shakespeares Drama ‘Othello’ schildert eine romantische Tragödie, die es ohne die Hautfarbe des Protagonisten wohl nie gegeben hätte. 200 Jahre später wandelt Gioachino Rossini das Drama in eine Oper in drei Akten, bei der die Hauptproblematik dieselbe bleibt: ist die Hauptfigur Otello ein gefeierter Kriegsheld oder doch nur ein unwillkommener ‘Mohr’, der sich die Tochter eines Weißen zur Frau nimmt? Nochmals 200 Jahre später inszeniert Manuel Schmitt die Oper am Musiktheater im Revier neu und greift dabei nicht nur die allgegenwärtige Rassismus-Debatte auf, sondern auch die Frage um eine europäische Idee. Ist das ‘Haus Europa’ nicht schon längst zur Festung geworden und welche Werte vermittelt Europa noch?

Desdemona und Otello blicken sich verzweifelt an - ihre Heirat ist zum Scheitern verurteilt.Die Oper ‘Otello’ von Gioachino Rossini, uraufgeführt im Jahre 1816, richtet sich thematisch grundsätzlich nach Shakespeares Vorlage ‘Othello’. Das 1604 verfasste Stück ‘Othello - The Moore of Venice’ bildet die Klammer für Francesco Maria Piaves Libretto, gibt die Ausgangsproblematik und das Finale der Oper vor. Das venetianische Volk ist zerrissen über den dunkelhäutigen Feldherrn Otello, der einerseits ihr Kriegsheld ist, auf der anderen Seite aber die Weiße Dogentochter Desdemona heiratet und damit offenbar Grenzen überschreitet. Hinzu kommen persönlich motivierte Intrigen eines Freundes, die dazu führen, dass Otello seine Geliebte tötet und schlussendlich selbst den Freitod wählt.

Wie zeitgemäß diese Oper sein kann, obwohl die Idee mehr als 400 Jahre alt ist, zeigt Regisseur Manuel Schmitt bei seiner Neuinszenierung von ‘Otello’ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR) nicht nur anhand der Herausarbeitung des Rassismus, der die Geschichte ohne Zweifel prägt. Durch ein hervorragendes Bühnenbild von Julius Theodor Semmelmann, bei dem jedes Requisit eine Bedeutung transportiert, und durch Carola Volles’ Kostüme, die eine gesellschaftliche Haltung widerspiegeln, weitet Schmitt die Frage nach Rassismus auf Ausgrenzung und die Mehrheitsgesellschaft im modernen Europa aus. Dabei darf das Publikum sich nicht gemütlich zurücklehnen, sondern wird mit einer Entscheidung konfrontiert, die das Ende des Stückes maßgeblich beeinflusst.

In Varietate Concordia

Das Bühnenbild von Julius Theodor Semmelmann.Schon bei der Ticketkontrolle merken die Zuschauer:innen, dass der Opernbesuch nicht wie gewohnt ablaufen wird. Sie bekommen Abstimmkarten ausgehändigt – eine Seite weiß, eine schwarz – auf denen der Spruch ‘In Varietate Concordia’ zu lesen ist. Wer das Programmheft durchgeblättert hat weiß: Es handelt sich um das Motto der Europäischen Union, das ins Deutsche übersetzt ‘In Vielfalt geeint’ bedeutet. Damit wird auf die unterschiedlichen Kulturen hingedeutet, die in der EU zu Hause sind und sich trotzdem zu einem Bündnis zusammenschließen, um Grundsatzfragen zu Handel und Menschenrechten gemeinsam zu klären. 

Der Schriftzug findet sich auch im Bühnenbild: Er steht spiegelverkehrt auf dem Dach des Hauses, das die Bühne einnimmt. Europa wird also zuallererst als Haus gedacht. Häuser sollen Schutz bieten, sie sind sichere Rückzugsorte für die Menschen und das will Europa für seine Völker sein. Ein weiteres europäische Symbol ist im Vordergrund der Bühne zu sehen: Ein Stier mit gesenktem Kopf, bereit zum Angriff. Er bietet mehrere Lesarten, weist aber vor allem auf den griechischen Mythos der Jungfrau Europa hin, die von Zeus in Gestalt eines Stieres entführt wird. 

Im Laufe des Stückes wendet sich das Blatt: Das ‘Haus Europa’ wird zur ‘Festung Europa’ umgebaut, ein Spiel mit Kollektivsymbolen aktueller Debatten und rechtsextremer Propaganda. Das edle Mobiliar wird zu Barrikaden aufgestapelt, um Fremde auszugrenzen. Ironischerweise besteht die Inneneinrichtung, die da verbaut wird, vor allem aus kolonialer Raubkunst, ein weiterer wunder Punkt in der Geschichte Europas, der aktuell in aller Munde ist. Schließlich wird ein Stacheldraht um die jetzige Festung gelegt, der Stier wird umgeschubst. Wer draußen bleiben muss ist natürlich der Außenseiter Otello. 

Schwarz gegen Weiß?

Nicht nur räumlich wird Otello im Stück von der Gesellschaft ausgegrenzt. Er trägt ein ganz klares Unterscheidungsmerkmal: Während das venetianische Volk vornehmlich in Pastelltönen gekleidet ist, sticht der Feldherr mit einem schwarzen Anzug aus der Masse hervor. Dies zeigt seine Andersheit und bietet einen klaren Bezug zu der Hautfarbe des Protagonisten. In der Inszenierung von Manuel Schmitt wird Otello von Khanyiso Gwenxane verkörpert, der genau wie seine Rolle eine dunkle Hautfarbe hat. Und so schwappt die Otello-Thematik von der Bühne in die Realität. Auch wenn das MiR laut Angaben längst mit Colour-blind Castings seine Rollen besetzt, fällt natürlich auf, dass Otello nicht nur einen schwarzen Anzug trägt und die Venetianer:innen nicht nur pastellfarbene Kleidung. Es wirft die Frage auf, ob Rollen wie die Otellos auch nur von Personen verkörpert werden sollten, die Rassismus selbst erleben mussten.

Schwarz und Weiß steht nicht nur für das Rassismusproblem, das die Figuren in Rossinis Oper leben, es steht auch für das Treffen von Entscheidungen. Die letzte Szene, deren Ausgang das Publikum bestimmen darf, wird mittels schwarzer oder weißer Abstimmkarten entschieden. Wie soll Desdemona auf den Angriff Otellos reagieren? Mit Worten oder Handlungen? Anstatt dieser Tragödie als stille:r Beobachter:in beizuwohnen, wird das Publikum in die Angelegenheit hineingezogen und muss diese unbequeme Entscheidung treffen. Das Gefühl, das man hat, während man seine Seite wählt, ist wohl allen bekannt. Wie oft steht man in öffentlichen Räumen daneben, wenn es Auseinandersetzungen zwischen Fremden gibt, zum Beispiel in der Bahn. Und wie oft wird einem heiß und kalt, weil man sich fragt: Sollte ich eingreifen oder lieber nicht? Nur um dann an der letztendlichen Entscheidung trotzdem zu zweifeln.

Den Zuschauer:innen ergeht es nicht anders: Sie bekommen pro Vorstellung nur eines von zwei möglichen Enden zu sehen und ich für meinen Teil habe mir hinterher gewünscht, das Publikum hätte sich doch für das andere Ende entschieden. Man müsste also mindestens zwei Mal das MiR besuchen und hat dann vielleicht Glück, dass die Abende unterschiedlich enden – aber nur, wenn die Mehrheit das Gleiche will. 

Europäische Kulturgeschichte hinterfragt

Mit seiner Neuinszenierung von ‘Otello’ gelingt es Manuel Schmitt ein historisches Bühnenstück, das längst ein europäisches Kulturgut ist, dazu zu nutzen, die europäische Kulturgeschichte zu hinterfragen. Es werden aktuelle innereuropäische Debatten aufgegriffen, zum allgegenwärtigen Rassismus, zur Kolonialgeschichte und zur Mehrheitsgesellschaft. Sieht man nicht nur den ästhetischen Aspekt der Oper, ist die Vorführung deshalb eine hochpolitische und nachdenklich stimmende Angelegenheit. Als ich abends das Theater verließ und mit der Bahn nach Hause fuhr kreiste eine Frage in meinem Kopf: Haben all diese Probleme den ursprünglichen Gedanken Europas – In Varietate Concordia – abgelöst?


Otello

Oper von Gioachino Rossini | Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Libretto von Francesco Maria Berio | nach Jean-François Ducis und Giovanni Carlo Cosenza | basierend auf Shakespeares gleichnamiger Tragödie | UA 1816 | in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Weitere Informationen zur Oper, Termine und Tickets gibt es hier.


Der Artikel „Von Shakespeare bis zur Festung Europa“ wurde von unserer RuhrBühnen-Bloggerin Karoline Klotsch verfasst. 

Weitere Artikel, mehr zum Blog und unseren RuhrBühnen-Blogger*innen gibt es hier.

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